Was wissen wir über Dr. Waldemar Spier?

Waldemar Spier wurde am 16. Oktober 1889 als einziges Kind des Kaufmanns Siegfried Spier und seiner Frau Johanna in Düsseldorf geboren. Dort besuchte er bis 1903 das königliche Gymnasium. Nachdem sein Vater Teilhaber eines Fotoateliers in Würzburg geworden war, folgte der Umzug nach Bayern und der Schulbesuch von Herbst 1903 bis 1906. Im Wintersemester 1906/1907 begann Waldemar Spier ein Studium der Zahnheilkunde an der Julius-Maximilian-Universität in Würzburg, welches er 1909 mit Staatsexamen beendete (Spier 1921).  Nach Schule und Studium folgte die Teilnahme am ersten Weltkrieg. Von 1915 bis 1918 diente er in verschiedenen Lazaretten als Feldzahnarzt. Am 22. April 1917 wird ihm zudem das Eiserne Kreuz II. Klasse verliehen (ebd.). In den sogenannten bayrischen Kriegsstammrollen wird Spier als 1,72 cm groß, dunkelblond, mit Schnurrbart und Mensurnarben auf beiden Wangen beschrieben. 

Nach der Rückkehr nach Düsseldorf eröffnete er 1919 eine eigene Zahnarztpraxis und 1921 promovierte er an der Julius-Maximilian-Universität in Würzburg zum Doktor der Zahnmedizin. Thema seiner Dissertation: „Für und wider die Brom- und Chloraethylnarkose mit eigener Erfahrung“ (Spier 1921). Seine Rolle im Verein Fortuna Düsseldorf ist bisher noch nicht gänzlich geklärt, jedoch belegen Vereinsprotokolle vom Januar und Juli 1931 seine Vereinsmitgliedschaft sowie seine Wahl in den Spielausschuss (Vgl. Halling et. al. 2018: 220). Die Fußballabteilung befand sich zu diesem Zeitpunkt in einer Hochphase der Vereinsgeschichte. Gleichzeitig drehte sich das politische Klima in Deutschland und die Nationalsozialisten erlangten immer mehr an Stärke. Adolf Hitler wurde am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt. Am 19. April 1933 veröffentlichte der Kicker eine DFB-Erklärung, dass „Angehörige der jüdischen Rasse, ebenso auch Personen, die sich in der marxistischen Bewegung raus gestellt haben, in führenden Positionen der Verbände und Vereine nicht (…) tragbar seien“ (Bolten, Langer 2005: 61)

Einen Tag später führte der DSC 99 als erster Düsseldorfer Sportverein den sogenannten „Arierparagraphen“ ein, der am 25. April 1933 vom zukünftigen Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten für verbindlich erklärt wurde. Welche direkten Auswirkungen diese Entwicklung explizit für Dr. Waldemar Spier hatte und in welcher Weise er den größten Erfolg der Vereinsgeschichte miterlebte, ist leider nicht überliefert. Am 11. Juni 1933 bezwang die Fortuna aus Düsseldorf die damals übermächtigen Schalker mit 3:0 und wurde vor 60.000 Zuschauern erster Deutscher Meister unter der NSDAP-Herrschaft. Ein im Juli 1933 in Köln aufgegebenes Telegramm von Waldemar Spier mit Glückwünschen an die Meistermannschaft, könnte ein Indiz dafür sein, dass Spier der damaligen Fortuna-Mannschaft nahe und emotional verbunden war. Danach findet Waldemar Spier in den wenigen aus der Zeit des Nationalsozialismus erhaltenen Unterlagen des Vereins keine Erwähnung mehr (Vgl. Halling et. al. 2018: 220).

Das Foto ist ein Auschnitt der sogenannten "Jüdischen Kennkarte" von 1939
Bildquelle: Stadtarchiv Düsseldorf ,
0-1-32-409.0008/002

 Kurzbiographie Dr. Waldemar Spier
  • Geboren am 16. Oktober 1889 in Düsseldorf
  • 1914 bis 1918 Teilnahme am ersten Weltkrieg als Feldzahnarzt
  • 1921 Promotion zum Doktor der Zahnmedizin 
  • 28. Juni 1934 Heirat mit Gertrud geb. Armenat 
  • 10. November 1938 Verhaftung und Deportation in das Arbeitslager Dachau
  • Anfang Dezember 1938 Rückkehr nach Düsseldorf
  • 02. März 1944 erneute Verhaftung durch die Gestapo 
  • 11. September 1944 Deportation nach Auschwitz und Einteilung zur Zwangsarbeit
  • 02. März 1945 Tod durch Hungertyphus aufgrund der unmenschlichen Haftbedingungen 

Waldemar Spier heiratete am 28. Juni 1934 seine damalige Lebensgefährtin Gertrud Armenat (1895–1978). Ihre Zugehörigkeit zur katholischen Kirche verschaffte ihm zunächst eine gewisse Form von Schutz. Ihre Ehe galt im nationalsozialistischen Jargon als „Mischehe“. Von 1919 bis zum Novemberpogrom 1938 betrieb Dr. Waldemar Spier an der Kölner Straße 248 seine Zahnarztpraxis. Neben den Praxisräumen befand sich dort auch die gemeinsame Wohnung von Waldemar und Gertrud. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1933 kam es im ganzen Reich zu schweren und folgenreichen Pogromen gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Auch die Praxis und Wohnräume der Familie Spier wurden im Zuge dessen vollkommen zerstört:

„Hier befand sich die Zahnarzt-Praxis und ein Zimmer, in dem Johanna Spier, geborene Kupfer, bis zu ihrem Tod im Oktober 1938 gewohnt hatte. Aus diesem Zimmer warf man die ganze Einrichtung bis auf das Unterteil eines schweren „Büffets“ aus dem Fenster. Alle anderen Räume wurden fast restlos zerstört.“ (Genger 2008 in Halling et al. 2018: 228)

Am 10.11.1938 wurde Waldemar Spier verhaftet und ins Polizeigefängnis gebracht. Dort verbrachte er einige Nächte und wurde schließlich am 16.11.1938 in das Konzentrationslager Dachau deportiert. In diesem ersten Abschnitt der Inhaftierung in Konzentrationslagern wurde versucht Druck auf die jüdische Bevölkerung auszuüben, mit dem Ziel die Emigration aus dem deutschen Reichsgebiet zu erzwingen. Gleichzeitig wurde ihr Besitz „arisiert“, also enteignet. Dies geschah auch im Falle von Waldemar Spier. Seine vorzeitige Entlassung aus dem Arbeitslager hatte Waldemar Spier seiner Frau Getrud zu verdanken. Diese hatte in einem Brief betont, dass bei der Übergabe der Praxis an einen arischen Zahnarzt die Anwesenheit ihres Mannes zwingend notwendig sei. Am 26.12.1938 schrieb Trude einen Brief an die Gestapo:

Hierdurch bitte ich höflich um Beurlaubung meines Mannes, da die Praxis arisiert wird. Es handelt sich in erster Linie um die Übernahme angefanger Arbeiten, Prothesen, Kronen, Brücken, die unbedingt im Interesse der Patienten fertiggestellt werden müssen. Das Schreiben der vorgesetzten Stelle meines Mannes, der Kassenärztlichen Vereinigung , füge ich zur Bekräftigung meines Antrags bei.“ (Vgl. Vogel 2017).

Nach drei Wochen Aufenthalt in Dachau kehrte Spier nach Düsseldorf zurück und zog zu seiner Frau in die bereits bezogene Wohnung auf der Rochusstraße 75. Nach seiner Entlassung aus Dachau war Spier zunächst durch seine nicht-jüdische Ehefrau vor weiteren Deportationen  geschützt. Allerdings wurde Spier wohl immer wieder zu schwerer Zwangsarbeit eingezogen. 1940 erhielt er eine Ausnahmegenehmigung der Gestapo als „jüdischer Krankenbehandler“ und konnte so die verbliebene jüdische Bevölkerung notdürftig zahnmedizinisch versorgen. Spier verhält sich politisch unauffällig, was durch einen Vermerk in seiner Gestapo-Akte deutlich wird: "In politischer Hinsicht bisher nicht hervorgetreten." (Vgl. Halling et al. 2018: 222)

Nach der Selbstmord, der Flucht und der Verhaftung seiner drei Vorgänger auf diesem Posten, wurde Waldemar Spier von der Gestapo zum Vorsteher der verbliebenen jüdischen Gemeinde ernannt (ebd.). Alle vier Männer waren Juden, die zu diesem Zeitpunkt mit einer Nichtjüdin verheiratet sind. Einige, der noch bis 1944 verbliebenen Juden in Düsseldorf, gingen in den Untergrund, um ihr Überleben zu sichern. Anhand einiger Zeugenaussagen wird ersichtlich, dass sich auch Waldemar Spier zeitweise versteckte. Die Witwe des verhafteten Düsseldorfer Gemeindevorstehers Kurt Frank erinnerte sich wie folgt an Spier:

"Dr. Spier war nach der Verhaftung meines Mannes Vorsteher der restlichen jüdischen Gemeinschaft geworden. Er war ein Mann, der durchaus korrekt arbeitete und m.E. den Gemeinheiten der Gestapo nicht gewachsen war. Er hatte immer noch eine gute Meinung von diesen Leuten und glaubte noch menschliche Gefühle bei ihnen zu finden. Leider mußte er es selbst mit dem Tode bezahlen." (Schmidt 2003 in Halling et al. 2018: 227)

Am 2. März 1944 wurden Gertrud und Waldemar Spier dennoch in ihrer Wohnung verhaftet und zunächst ins Gerichtsgefängnis Düsseldorf, später ins Gefängnis Ulmenstraße gebracht und dort u.a. von dem Gestapo Beamten Waldbillig verhört. Trude gab in einem späteren Prozess nach 1945 folgendes zu Protokoll:

"Nach fünfwöchiger Haft im Gefängnis Ulmenstr. Wurde ich wieder entlassen, während mein Mann in strenge Einzelhaft genommen wurde. Meinem wiederholten Vorsprechen bei der Gestapo wurde nicht stattgegeben. Nach 4 Wochen erhielt ich die erste Besuchserlaubnis. Bei dem zweiten Besuch nach 8 Wochen fand ich meinen Mann seelisch und körperlich in sehr schlechter Verfassung. Ich versuchte erneut von der Gestapo zu erfahren, weshalb mein Mann in Haft sei, da er doch gewiss nichts getan habe. Waldbillig hat mir darauf erwidert, dass er dafür sorgen werde, dass mein Mann nicht mehr zurückkomme, er käme in ein Konzentrationslager. […]

Nachdem Waldbillig mich genügend seelisch gequält hatte, erfuhr ich am 09.09.1944, als ich meinem Mann im Gefängnis Wäsche bringen wollte, dass mein Mann in zwei Tagen nach Auschwitz abtransportiert würde. Auf Umwegen erfuhr ich von dem Abtransport und fand mich auf dem Bahnhof ein, wo ich ihn nur von der Ferne sehen konnte. Es wurde von der Gestapo nicht zugelassen, dass die Deportierten sich von ihren Angehörigen verabschieden konnten." (LA NRW, Gerichte Rep. 0372 Nr. 87 ,Bl 81v)

Am 11. September 1944 wurde Waldemar Spier zusammen mit Rudolph Braunschweig und der verbliebenen jüdischen Bevölkerung in der letzten Deportation aus Düsseldorf nach Auschwitz gebracht. Er wurde auf der Rampe nicht für die Gaskammern selektiert, sondern ins Lager zur Zwangsarbeit gebracht. Durch die schweren Arbeits- und Haftbedingungen starb Waldemar Spier am 2. März 1945 im Block 20 an Hungertyphus in den Armen seines Mithäftlings Julius Loeb. Fünf Wochen nach der Befreiung durch die Rote Armee.

1952 stellte Gertrud Spier einen Antrag auf Anerkennung ihres Mannes als „rassisch Verfolgter“. Dafür musste sie die Gestapo-Haft, die Deportation und den Tod in Auschwitz nachweisen (Vgl. Halling et al. 2018: 225). Trude Spier blieb bis zu ihrem Tod 1978 durch die Ereignisse und den Verlust ihres Ehemannes nachweislich gesundheitlich stark angeschlagen. Dies geht aus entsprechenden Attesten in den Entschädigungsakten hervor.